Dieser Rückblick geht in das Jahr 1923 und zeigt auf, was Mutterstadt vor einhundert Jahren bewegte und mit welchen Problemen sich damals der Gemeinderat befassen musste, der unter dem Vorsitz des seit 1920 amtierenden hauptamtlichen Bürgermeisters Jakob Weber (SPD) insgesamt 15 mal tagte.
Diese Zeit war hauptsächlich geprägt durch die Geldentwertung, Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot. Über welche verschiedensten Themen sich der Gemeinderat Gedanken machte, was beraten und beschlossen wurde und welche, für uns heute unvorstellbaren, Summen in dieser Zeit im Umlauf waren, und was das für Auswirkungen hatte, verdeutlichen beispielhaft folgende Ratsbeschlüsse:
Im April wird ein Kredit für den Haushalt in Höhe von 30 Millionen Mark aufgenommen und für den Wohnungsbau ein weiterer Kredit von 70 Millionen Mark. Die Gemeindekasse richtet im Rathaus eine Wechselstube ein zum Devisen- und Verkauf, um somit kriminellen Devisenschiebern vorzubeugen und schafft für die gemeindlichen Gelderheber größere Taschen an, um die großen Mengen von Papiergeld besser transportieren zu können.
Eine Holzversteigerung im Spätjahr im Gemeindewald bringt einen Erlös von 1,826 Billionen Mark, der für ausstehende Lohn- und Gehaltszahlungen und für Arbeitslose verwendet wird. Im Juni erhalten die Putzfrauen im Rathaus und in der Schule einen Stundenlohn von 3.000 Mark, der Kaninchenzuchtverein für seine Jahresausstellung im Herbst einen Gemeindezuschuss in Höhe von 200 Millionen Mark, die Hundesteuer wird im März neu festgesetzt und beträgt für den 1. Hund 5.000 Mark, für den 2. Hund 8.000 Mark Hund für jeden weiteren Hund 12.000 Mark. Auf Grund der galoppierenden Inflation werden diese Hebesätze im Oktober angehoben auf 10, 15 und 20. Millionen Mark (!). Für die Kartoffelversorgung der „Ärmsten der Armen“ in der Bevölkerung zahlt die Gemeinde an die Landwirte 2 Milliarden Mark; gleichzeitig wird die Zunahme von Felddiebstählen beklagt und das „Stoppeln“ von Kartoffeln streng verboten und verfolgt. Auf dem Höhepunkt der Geldentwertung im November beschließt der Gemeinderat, einen Kredit aufzunehmen in Höhe von 1,5 Billiarden Mark (1 Billiarde, 500 Billionen), alternativ einen Betrag von 30.000 Franken.
Für die Kinderspeisung (Kakao und Zucker, Milch und Mehl für die Brötchen) in der Zeit von Mai bis September für zirka 220 bedürftige Kinder stellt die Gemeinde eine Million Mark zur Verfügung. Die Bezieher von Erwerbslosenfürsorge werden auf Beschluss des Gemeinderats bei der Gemeinde gegen Bezahlung für Notstandsarbeiten (Feldwege, Gräben) beschäftigt.
Der Gemeinderat beschließt auch neue Badegebühren für das Volksbad in der Pestalozzischule:
Wannenbad: 400 Mark; Brausebad 150 Mark, ab Juli sind es 2.000 bzw. 1.000 Mark. Gleichzeitig wird entschieden, dass Gemeindebeamte das Bad nicht mehr, wie bisher, unentgeltlich benutzen dürfen (Badezeit ist für Männer vormittags und für Frauen nachmittags). Die drei im Ort tätigen Hebammen erhalten von der Gemeinde eine Entschädigung für die Entbindung von armen Müttern. Die Arbeiter, die für eine Streikmaßnahme bei der BASF „gemaßregelt“ wurden (durch einen vorübergehenden Arbeitsplatzverlust), erhalten kostenlos oder verbilligt Milch, Brot und Brennmaterial. Private Bekanntmachungen durch die Orts-schelle kosten künftig für Einheimische 1.000 Mark und für Vereine und Auswärtige 1.500 Mark. Die Jauche-Versteigerung aus den Aborten des Rathauses und des Schulhauses ergab einen Erlös von 3.831 Mark. Im neuen Schulhaus dürfen auf Beschluss des Gemeinderates u.a. keine Wäsche mehr von hiesigen Einwohnern getrocknet werden.
Grünes Licht gibt es vom Gemeinderat für einen Straßendurchstich zwischen Friedhof- und Ludwigshafener Straße (heute Friedrich-Ebert-Straße) und damit auch für den Bau einer Gendarmeriestation (Eckhaus zur Ludwigshafener Straße).Wg. Wildwuchs auf dem Friedhof beschließt der Gemeinderat im April 1923, dass nur noch Zypressen und Trauerweide angepflanzt werden dürfen, andere Baumarten verboten sind und die Einhaltung der Vorgabe „streng zu überwachen“ ist. An der in Trägerschaft der Gemeinde stehenden Berufsfortbildungsschule werden auswärtige Schüler nur noch zugelassen, wenn sich deren Heimatgemeinden an den Kosten beteiligen (Schulgeld).
Für die Kinder von nicht werksangehörigen Bewohnern des Gebiets am damaligen Mutterstadter Hauptbahnhof Limburgerhof, die die privat betriebene Schule der BASF besuchen, zahlt die Gemeinde ein Schulgeld. Zur Information der Bevölkerung zur Gesundheitsvorsorge wird das „Tuberkulosewandermuseum“ des Fürsorgeverbandes Pfalz für zehn Tage im Gasthaus „Pfälzer Hof“ aufgebaut.
Die BASF beantragt für ihre Versuchsstation auf dem Limburgerhof, im Mutterstadter Gemeindewald drei Tiefbrunnen zu bohren für die Gewinnung von einwandfreiem Trinkwasser und die Kath. Kirchengemeinde auf dem Limburgerhof benötigt für den Bau ihres neuen Kirchenzentrums im Tausch Grundstücke aus dem damaligen Grundbesitz der Gemeinde Mutterstadt. Der Antrag des Ziegenzuchtvereins Limburgerhof-Friedensau auf Gewährung eines Gemeindezuschusses für Futterbeschaffung wird abgelehnt, da den Ziegenhaltern die Ziegenböcke in Mutterstadt zur Verfügung stehen.
Aus Amerika erhält die Gemeinde zwei Spenden, einmal 20.000 Mark von dem Deutsch-Amerikaner Gustav Heim für soziale Zwecke und einmal einen noch nicht bekannten Betrag aus einer Erbschaft von Ludwig Löb. Ferdinand Löb II kommt 1923, als erstes Mitglied der jüdischen Kultusgemeinde, als Nachrücker in den Gemeinderat.
1923 wechseln in einigen Mutterstadter Gaststätten die Wirte: Karl Ries übernimmt die Wirtschaft „Zum Pflug“ in der Oggersheimer Straße, Theobald Konradt die Wirtschaft am damaligen Hauptbahnhof Mutterstadt auf dem Limburgerhof (vormals Lautenschläger). Andreas Reimer führt fortan die Schankwirtschaft „Zum Feldschlössel“ in der Fußgönheimer Straße (Alhambra-Kino), die Wirtschaft „Zur Jägerlust“ in der Neustadter Straße 45 betreibt jetzt Josef Dhonbruch, Margarethe Höflich das Gasthaus „Zum Deutschen Reich“ in der Oggersheimer Straße und die Eheleute Haber die Gastwirtschaft „Zum Adler“ in der Neustadter Str. 1.
Auf Grund der schwierigen politischen und sozialen Lage in dem Jahr wird entschieden, dass an der Kirchweih (Kerwe) im August nur ein Kinderkarussell, eine Schiffschaukel und drei Zuckerstände zugelassen werden; andere Belustigungen, auch Tanzmusik, sind nicht erlaubt.
Text: Volker Schläfer