Speyer / Metropolregion Rhein-Neckar – Pirmin Spiegel hat im Januar seine Arbeit in der Stabsstelle Innovation und Transformation aufgenommen. Als Referent betreut er in besonderer Weise die Themen Globale Bildung und Nachhaltigkeit. Zuvor war er unter anderem 15 Jahre in Brasilien in der Gemeinde- und Bildungsarbeit tätig sowie mehr als zwölf Jahre lang Hauptgeschäftsführer von Misereor, dem katholischen Werk der Entwicklungszusammenarbeit weltweit. Im Interview erzählt er, was er nun vor hat.
Sie kommen ursprünglich aus der Pfalz, aus Großfischlingen bei Edenkoben. Ist es eine große Umstellung, nach jahrzehntelanger internationaler Tätigkeit wieder in die Heimat zurück zu kommen?
Spiegel: Mein erster Gedanke: Zurück zu den Wurzeln. Meine ersten 19 Lebensjahre lebte ich in der Pfalz. Die ländlichen Grundstrukturen und die Dorfgemeinschaft waren prägende Elemente, denen ich auch später immer wieder begegnet bin – ob das jetzt in Brasilien oder während der Arbeit bei Misereor war. Ich habe auch gelernt, dass „global” und „lokal” zusammen gedacht werden müssen, weil das, was wir tun, nicht nur lokale Konsequenzen hat, sondern immer wieder auch mit dem globalen Gemeinwohl verbunden ist.
Ein weiterer Gedanke: Es gibt nie nur eine Geschichte. Die Geschichten von Europa oder von Deutschland, aus unserer Perspektive, sind uns bekannt. Wir kennen aber zu wenige Geschichten vom globalen Süden über uns. Aber auch die Geschichte der Länder in Afrika wurde in der Regel von Europäern geschrieben. Was sagen Menschen aus Afrika? Was sagen Literatur, Persönlichkeiten und andere Sichtweisen für uns und unser Leben: All das will ich versuchen einzubringen und so Horizonte, die mir geschenkt wurden, mit anderen teilen.
Zwischen dem Verlassen des Bistums und Ihrer Rückkehr sind ereignisreiche Jahrzehnte vergangen. In weiteren Veränderungen stecken wir. Wie nehmen Sie die (kirchliche) Lage wahr?
Spiegel: Die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) sagt, dass etwa 13 % der Menschen in Deutschland eine Affinität zu einer der beiden großen Kirchen haben. Bei Menschen unter 25 Jahren halbiert sich diese geringe Prozentzahl nochmal. Das heißt, Themen rund um das Sinnsuchen, die wir bisher als Kirche und in der gegenwärtigen Kirchenform transportiert haben, scheinen sich aufzulösen und zu verdunsten. Die Art, wie wir Kirche gekannt haben in den letzten Jahrzehnten, vielleicht sogar Jahrhunderten, wird es so nicht mehr geben.
Wir werden andere Wege und Ideen finden müssen, wie wir unseren Auftrag bezeugen und einen Beitrag leisten können für eine größere Menschlichkeit, für eine größere Gerechtigkeit, für die Frage des Friedens, für die Frage des Klimawandels. Welchen Beitrag können wir als Kirche von unserem Erfahrungshorizont her leisten?
Was wir momentan erleben ist „America first. Europe first.” Aber nicht „Planet first”. Gerade als Weltkirche haben wir Möglichkeiten, Erfahrungen von anderen Völkern, von anderen Bereichen, in das Gespräch einzubringen. Ich denke beispielsweise an die Urwaldregionen um den gesamten Äquator herum. Da leben Menschen mit anderen Weisheiten und anderem Wissen, da ist eine Kompetenz vorhanden … So entstehen wichtige Beiträge für eine größere Menschlichkeit
Die Stabsstelle Innovation & Transformation ist eingeladen, zu suchen und zu probieren: Wie geht eine solche Entwicklung? Wie können wir als Kirche einen Beitrag leisten, nicht zuerst für eine kirchliche Selbstreferentialität? Nicht zuerst, dass unsere Kirchenzahlen wachsen, sondern damit wir die Erfahrungen, die wir haben, einbringen können in diese Prozesse – zugunsten der Menschen und der Gesellschaft.
Sie betreuen das Referat Globales Lernen und Nachhaltigkeit. Darin geht es um politische Themen. Ein Dauerkritikpunkt an der Kirche ist, dass sie sich aus der Politik herauszuhalten habe. Was sagen Sie dazu?
Spiegel: Wenn wir von der Bibel her überzeugt sind, dass der Mensch Gottes Ebenbild ist, dann können wir dort, wo Menschenrechte und Menschenwürde mit den Füßen getreten werden, wo Menschen zu Objekten und zur Ware werden, nicht schweigen. Ansonsten würden wir das Evangelium und die biblische Botschaft verraten.
Die Ärmsten der Welt leben größtenteils in den Ländern des Südens. Kardinal Rosa Chavez von El Salvador hat vor einigen Jahren vor der Bischofskonferenz im Hinblick auf die Frage des Zusammenhangs von Evangelium und Politik gesagt: Wenn Sie als Bischöfe in Deutschland meinen, sich nicht zu politischen Fragen äußern zu dürfen, dann sei dies hoch politisch. Zu schweigen, angesichts von Unrecht, angesichts von Ausgrenzung, angesichts asymmetrischer Strukturen, die anderen das Leben beschädigen, entfernt uns von der biblischen Option. Wir sind politische Menschen, und wir haben eine sehr gute Orientierung und Wegweisung vom Evangelium und von der Bibel her, uns klar zu positionieren: „Suchet zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit.”
Was ist unter dem Bereich „Globales Lernen” zu verstehen?
Spiegel: Empowerment und Ownership. Wie können Menschen, gerade Jugendliche, selbst ihre Fähigkeiten in die Hand nehmen, um einen Beitrag für das Gemeinwohl zu leisten? Wie kann die Kraft derer, denen wir das vielleicht gar nicht zutrauen, entdeckt werden? Dass das in den verschiedenen Bildungseinrichtungen Thema wird oder in Schulfächern, die es bereits jetzt gibt, integriert wird, ist mir wichtig.
Über Globales Lernen sollte lokal vermittelt werden, welche Möglichkeiten und Konsequenzen unsere Handlungen haben. Wenn wir bestimmtes Obst und Gemüse essen, wenn wir Avocado essen oder Ananas. Unter welchen Bedingungen werden diese produziert? Stimmt dies mit der Menschenwürde, mit Menschenrechten vor Ort überein? Wie sieht da die gesamte Lieferkette aus? Ich freue mich Leute kennenzulernen, die an diesen Themen dran sind, von anderen Organisationen zu lernen und vielleicht auch gemeinsame Bündnisse zu schließen.
Mir ist wichtig, dass Kirche nicht unbedingt die Lokomotive ist, sondern einer der Waggons, Teil einer lernenden Gemeinschaft, die mit anderen Zukunft konstruiert. Um es mit einem Vers des Johannesevangeliums zu sagen: „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben.”
In einer Zeit multipler Krisen polarisieren Themen wie der Klimawandel zunehmend, wenn sie nicht gleich in den Hintergrund rücken. Wie gehen Sie damit um?
Spiegel: Die Frage des Klimawandels, der Erderwärmung, kann nicht separat gesehen werden von Fragen der Sicherheit, von der Frage der sozialen Absicherung, von der Frage des Einkommens, von der Frage der Wirtschaft. Das hängt alles miteinander zusammen. Laudato si, die Gerechtigkeits-Enzyklika von Papst Franziskus, sagt sehr schön: Alles ist mit allem verbunden. Und wir können nicht nur jeweils einen Bereich im Blick haben, sondern müssen aus den Silos herausgehen und das Gesamte sehen. Vor zehn Jahren erschien nicht nur die Enzyklika Laudato si; auch dank der Weltklimakonferenz in Paris und der UN-Nachhaltigkeitsziele herrschte eine positive Aufbruchsstimmung. Davon ist wenig geblieben.
Als ich seinerzeit von der Diözese aufgebrochen bin, war das nicht nur eine andere Kirche. Es war eine andere Gesellschaft. Es war ein stückweit eine andere Welt – und die Prozesse werden immer dynamischer. Ich habe immer wieder gelernt, dass die Emotionalitäten und Empathie von Menschen, ihre Sicherheitsbedürfnisse und die Nöte von Einzelnen mitzubedenken sind. Der Mensch hat nicht nur Kopf, sondern auch Bauch und Herz. Das müssen wir zusammen denken, um diese Fragen zu thematisieren. Am Beispiel des Klimawandels wird das einer meiner Schwerpunkte sein.
Die Erderwärmung ist eine der Ursachen aktueller Veränderungen, die sehr teuer sind und Menschenleben zerstören, besonders die der Ärmsten. Also wie können wir von dieser Erkenntnis her einen Beitrag leisten zu sagen: Vorbeugung wird insgesamt billiger und schützt Menschen und schützt die Erde? Nicht zuletzt die Pandemie hat gezeigt, dass in Zeiten höchster Not Ressourcen mobilisiert werden können, die es sonst nicht zu geben scheint.
Die Pandemie war eine unmittelbare Situation. Klimawandel ist häufig abstrakt und meistens weit weg. Und damit kein dringliches Problem?
Spiegel: In diesem Zusammenhang ist es mir sehr wichtig, dass wir nicht mit einem erhobenen Zeigefinger unterwegs sind, so zu tun, als hätten wir alle Antworten. Gemeinsam mit Menschen nach Antworten zu suchen; dafür könnte Kirche ein Beispiel sein.
Die abnehmende Bedeutung der Kirche für Menschen und Gesellschaft hängt damit zusammen, dass die großen Narrative keine Tragkraft mehr haben. Das hängt mit Individualisierungs- und Säkularisierungsprozessen zusammen. Der Frage, was Kirche als Beitrag leisten kann für einzelne Menschen und für den gesamten Planeten.
Dazu will ich mich gerne auf den Weg mit anderen machen. Auf der Suche, um Antworten und Lösungswege zu finden – damit auch die nächste Generation in Würde und in Freude auf diesem Planeten leben kann.
Wie kann eine nachhaltige Lebensweise erreicht werden?
Spiegel: Wir sind inmitten von Transformationsprozessen. Zum Beispiel spüren wir, dass die Landwirtschaft, wie wir sie bisher gemacht haben, so nicht weitergehen kann. Was bedeutet Subventionierung von Landwirtschaft in Deutschland und Europa für Bauernfamilien in den Ländern Afrikas? Was bedeuten Handelsabkommen, die wir hier machen, für die Betroffenen? Es gibt viele Gruppen innerhalb der Gesellschaft, die seit Jahren an dem Thema dran sind. Denen Rückenwind geben und Räume mit ihnen zu erobern und zu entdecken, ist ein gutes Ziel.
Text/Foto: is
Quelle: Bistum Speyer